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Das Geheimnis des von Heimlichkeit umhüllten Ortes

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Totenstille wehte über seine Wiesen, die Gräser ergraut und leblos. Lechzend nach Licht bäumten sie sich auf, schnellten kräftezehrend empor und ließen sich von der Kälte tragen. Der Himmel flehte nach Wasser, die kahlen Bäume nach Hilfe des sie umringenden, grünen Waldes. "Wir würden alles für ein paar wenige letzte Sonnenstrahlen geben. Nur noch ein einziges Mal!", riefen sie stumm. Ihre Verzweiflung verhallte ungehört, ihre Schreie wurden von Leere verschluckt. Der von Heimlichkeit umhüllte Ort war entsetzlich einsam, gar entseelt durch seine unermüdliche Sehnsucht nach einer Prise Leben.


Das Geheimnis, das der Ort hütete, hat seit geraumer Zeit nicht mehr geatmet, sich nicht bewegt, nicht gefühlt, genau wie er selbst. Irgendwann ist ihm aufgefallen, dass ihn viele Dinge mit dem Geheimnis verbanden. Und um die andauernde Eiseskälte erträglicher zu machen, hatte er begonnen über ein Gespräch zu fantasieren. Er stellte sich die Stimme des Geheimnisses vor - die Klänge, die Höhe und ihre Melodien. Er stellte sich vor, wie sie gemeinsam weinen würden und einander gemeinsam heilen könnten.


Und da plötzlich tauchte die Zauberin auf, die dem von Heimlichkeit umhüllten Ort so viel Leid gebracht hatte - und seinem Geheimnis, und riss ihn unbeirrt aus seinen träumerischen Gedanken. Sie strotzte vor Leben, vor Energie und Bewegung. So viel Zeit war vergangen und sie war keinen Tag gealtert. Das weiße Haar so leuchtend hell, ihr Körper von dickem Fell umgarnt und umschmeichelt, ihre geschlossenen Augen in Ruhe getraucht.


Ein schmerzhaft triefender Kontrast zu ihm und dem Geheimnis. Und obwohl seine Gefühle, trunken von Monotonie, nach jahrelanger Einsamkeit abgestumpft waren, spürte er seinen Hass auf sie emporquellen.


Mit letzter Kraft umrankte der Dunst seines Bodens gierig ihre Finger, umhüllte ihr langes bleiches Haarkleid und sammelte sich an verknoteten Strähnen, versuchte sie ihr mit aller Kraft vom Kopfe zu reißen. Er legte Raureif um sie, um ihre Haut zu vereisen, ihr Blut zu gefrieren. Er wollte sie leiden sehen, wollte dass sie spürte, was er so lange hatte dulden müssen, und versteckte das Geheimnis vor ihr im Nebel. Nichts besaß der Ort für sich, so beanspruchte er das blasse Geschöpf, das er für die Zauberin verstecken sollte, für sich und ließ die Zauberin im Dunst erblinden.


Als hätte sie Erbarmen - als wäre sie nicht kompromisslos, gar grausam und als hätte sie verstanden - ließ sie ihre Arme fallen und gab ihm Magie von sich. Magie, die ihn mit Leben nährte. Sie floss ihre Arme hinab, schoss zwischen ihren Lippen hervor, sprießte aus ihren verschlossenen Augen. Erst wollte er sich sträuben, nicht mickrig wie er war an allem laben, was sie ihm geben würde. Doch etwas sagte ihm, dass er es brauchte, um zu Kräften zu kommen. Und er nahm alles, was er kriegen konnte, absorbierte jeden Tropfen demütig. Und obwohl er sein Geheimnis für sich behalten wollte, lichtete er widerwillig den nebligen Schleier und ließ sie weiter vordringen.


Und da war es. Das Geheimnis. Sie. Als die Zauberin Sie zu Gesicht bekam, schluchzte sie auf einmal laut auf und zerriss messerscharf die Stille. Dann begann sie zu kreischen und zu stampfen, ihr Blick heißblütig, ja gar besessen. "Sie ist meine Schwester. Meine einzige Schwester!", schrie sie, ihre Stimme krächzend, gewaltsam durch die stummen Äste und Gräser schneidend. "Ich kann sie doch nicht gehen lassen, ich kann doch nicht -" Entkräftet fiel sie in sich zusammen, hechelte vor Wut und Frust. Und dann öffnete sie zum ersten Mal ihre hell leuchtenden Augen, atmete leise weinend tiefer ein, um schließlich zu verstummen. Der Ort war beobachtete lange ihre hellen Augen. So gleißend strahlend, dass er kurz glaubte, er würde zum ersten Mal wieder die Sonne zu Gesicht bekommen. Im nächsten Moment verschwand sie. Hätte sie keine Fußspuren im Schnee und Eis hinterlassen, hätte er geglaubt, dass die Begegnung nur ein Traum war.


Der Ort war so völlig überfordert, so verängstigt von der Zauberin, dass er fast vergaß, dass ein Hauch von ihrer Magie noch in ihm pulsierte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geheimnis. Auf sie. Seine Gräser ließen erst einen Tropfen Magie zu ihr fließen, dann einen zweiten. Und schwermütig einen dritten, als nichts passierte. Als der Ort die Hoffnung schon verloren hatte, vernahm er kaum hörbar eine Stimme zu seinem Nebel flüstern. Ihre Stimme. "Bald", wisperte sie.


Der Ort hielt inne. Wie konnte sie sprechen, ohne ihre Lippen zu bewegen? Gefangen im Eis. War es Telepathie? Sprachen ihre Gedanken mit seinen? Er versuchte zu antworten, aber kein Ton vibrierte durch die Lüfte. "Bald?", fragte er stumm. Er erwartete keine Antwort. Vielleicht war es ein Hirngespinst, eine Sehnsucht, die so stark war, dass sie sich materialisiert hatte. Als er die Hoffnung auf eine Antwort längst aufgegeben hatte, hörte er ein leises Seufzen. "Bald sind wir frei"


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