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Hanna sieht etwas

Aktualisiert: 11. Dez. 2020

Sie bewegte sich nicht, lauschte enerviert ihren unkontrollierten, hetzenden Atemzügen und hielt inne. Hanna und ihre Freundin Bahar waren im Keller, die anderen hörten oben laut Musik, tanzten und erkundeten den alten, verwaisten Schrebergarten, den sie auf dem Weg zum Bahnhof entdeckt hatten. Minuten vergingen, die sich wie Stunden anfühlten. Jede Sekunde zog schwermütig an ihr vorbei. War das gerade echt? Passierte das wirklich? Sie schloss ihre Augen, atmete tief ein und fasste neuen Mut. "Bahar?", rief sie schrill. Ihre Stimme brach. Ihre Freundin Bahar ist doch mit ihr zusammen die Treppe runtergelaufen.

Wieder verstrichen Sekunden, in denen nichts geschah. Sie hörte ein leises Rauschen, spürte wie eine leichte kalte Brise über ihr Gesicht huschte und tänzelnd ihre Nase kitzelte. Wieder atmete sie tief ein - zählte stumm bis drei: 1..2..3 - und blickte auf.


Das merkwürdige, fremdartige Wesen schwebte noch immer über ihr, sein ätherisches Leuchten erhellte den düsteren Keller in winterlichen Blautönen. Fasziniert ließ Hanna ihren Blick zu seinem Gesicht wandern. Es schien konzentriert - kleine Fältchen legten sich um seine Stirn. Dunkle Augen starrten nachdenklich zurück, auch die schmalen Lippen des Wesens kräuselten sich leicht. War es überrascht?


Jede seiner Bewegungen schien überlegt, präzise. Als würde es die Situation genauestens versuchen zu analysieren. Sie konnte seine Größe schwer einschätzen. Es hatte lange dünne Tentakel, die anmutig den Wellen des Windes folgten, sich immer wieder neu ausrichteten. Seine Bewegungen so weich, fast zaghaft. 'Das Geschöpf ist schon groß', überlegte sie im Stillen, 'so groß wie eine Katze oder vielleicht ein Hund oder...Fuchs'. Hanna ließ ihren Blick langsam über den Körper des Wesens wandern, beobachtete wie sich sein Brustkorb hob und senkte mit jedem seiner Atemzüge. Seine Haut erinnerte sie etwas an eine Schlange oder - sie musste lächeln - vielleicht an ein Nacktmull. So dünn, ja gar durchlässig, dass sie selbst kleinste Äderchen klar erkennen konnte.


Aus dem Augenwinkel sah sie Bahar in ihre Richtung starren. Vorsichtig trat ihre Freundin einen Schritt näher, das Wesen rührte sich nicht. "Wow", wisperten beide gleichzeitig, völlig gefesselt von dem seltsamen Tier. Hanna hörte ein leises Rascheln. "Das ist einfach unglaublich", vernahm sie Bahars ergriffene Stimme. Wieder vergingen einige Minuten, in denen nichts geschah. Nur von oben schallten Gelächter und Musik. Und dann - plötzlich - verblasste das Wesen, bis es sich schließlich in Luft auflöste. Spurlos verschwunden. Der Keller wurde wieder wieder dunkel, die kühle Brise geisterte nicht mehr über Hannas Haut.


Die beiden Freundinnen schauten einander aufgeregt an. Bahar sprach als erste. "Ich hab ein Foto gemacht!", erklärte sie lächelnd. "Das müssen wir Ninskij zeigen!"


Fieberhaft öffnete Bahar die Bildergalerie auf ihrem Handy und rief Hanna zu sich. Doch als sie sich beide das Bild anschauten, weiteten sich ihre Augen. Das Wesen war nicht auf dem Bild. Nichts war zu sehen, nicht mal schemenhaft. Hanna schüttelte den Kopf. "Wir haben es doch beide gesehen, das kann doch nicht -" Sie konnte es nicht glauben. "Das kann doch nicht - das war echt! Bahar, das war doch echt!" Sie schluckte laut und blickte sich nochmal im Keller um, suchte nach irgendeinem Indiz, irgendeinem Anhaltspunkt. Als sie nichts fand, begann ihr Herz zu rasen. "Oder?"



Bild: Bahar

Zeichnung: Ninskij

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